Tragwerksplanung

Ein Beispiel für Zusammenarbeit

Im Juli 2021 wurde das Ahrtal von einer schweren Naturkatastrophe getroffen. Heftige Regenfälle haben die Ahr ansteigen lassen und eine 6 bis 10 m mächtige Flutwelle hat sich durch das Tal gewälzt. Dabei wurde fast die komplette Infrastruktur in der Region zerstört.

Schaden nach der Überschwemmung: Verklauster Durchflussquerschnitt (Foto: Becker Ingenieure GmbH)
Schaden nach der Überschwemmung: Verklauster Durchflussquerschnitt (Foto: Becker Ingenieure GmbH)

Für die Aufräumarbeiten und die Versorgung der Anwohner auf schnellem Wege mussten die Standsicherheit und die Schäden der Verkehrsinfrastruktur beurteilt und provisorisch wieder aufgebaut werden. Das ansässige Ingenieurbüro, die Becker Ingenieure GmbH, betreute diese Arbeiten und koordinierte die Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Stellen der Gemeinden und des technischen Hilfswerks. Für die Nachrechnung und Bewertung der Stabilität der Bestandsbrücken wurden wir hinzugezogen.

Eine der wenigen Brücken, die für einen provisorischen Wiederaufbau in Frage kamen, war die Brücke über die Ahr im Zuge der L83. Durch die Flut hatte sich das mitgerissene Treibgut teils meterhoch vor der Brücke aufgetürmt und den Durchflussquerschnitt verringert. Das Wasser hat sich daher über das südliche Widerlager mit der angrenzenden Gehwegunterführung seinen Weg gesucht. Die hohe Fließgeschwindigkeit führte zur Unterspülung der flachgegründeten Konstruktion. Das Widerlager samt der angrenzenden Unterführung hatte sich verkippt und wurde bis zu 6 m tief eingespült. Das Randfeld der Brücke hing damit an seinem südlichen Auflager vollständig frei und hatte sich etwa 32 cm nach unten verformt.

Schritt 1: Bewertung des Bauwerkszustands

Zuerst ging es um die Frage des Bauwerkszustands. Es galt den havarierten Zustand zu bewerten und rechnerischen nachzuweisen, damit Einsatzmannschaften das Bauwerk sicher betreten können. Zusätzlich wurde untersucht, ob der Bauwerkszustand ein Anheben in den ursprünglichen Lagerungszustand ermöglicht und im Anschluss wieder in Gebrauch genommen werden kann.

Brücke Ko360 über die Ahr im Zuge der L83

  • Baujahr 1968
  • Dreifeldriges Bauwerk
  • Brückenklasse 60 nach DIN 1072
  • Überbauquerschnitt besteht aus einem Vollquerschnitt mit seitlichen Kragarmen
  • Brücke ist in Längsrichtung mit Spanngliedern VT 108 vorgespannt
  • Am nördlichen und südlichen Widerlager schließen unmittelbar 2 Durchlässe an (Geh- und Radwegunterführung)
 Durch die Flut hatte sich das mitgerissene Treibgut teils meterhoch vor der Brücke aufgetürmt und den Durchflussquerschnitt verringert.

Bei dem Hochwasser wurde das südliche Widerlager mit der angrenzenden Unterführung vollständig weggespült und beschädigt. Das Randfeld der Brücke kragt dadurch frei aus. Größere Schäden, in Form einer ausgeprägten Rissbildung an der tragenden Konstruktion des Brückenüberbaus, wurden nicht festgestellt.

Ein sichtbarer Riss mit einer Rissbreite von > 0,3 mm zeigt sich etwa auf Höhe der abgestuften Spanngliedbewehrung. Das Rissbild entsprach damit dem Kraftverlauf aus der Berechnung. Nach dem späteren Anheben des Randfeldes hat sich der Riss geschlossen und war nicht mehr wahrnehmbar.

Sicherheit gewährleisten: Rechnerischer Nachweis

Mit einer Nachrechnung sollte der Zustand der tragenden Struktur infolge des eingetretenen Schadens bewerten werden. Dabei wurden die Beanspruchungen für das havarierte System mit auskragendem Randfeld ermittelt und die Querschnittsbeanspruchung berechnet.

Die Bemessungsergebnisse am Gesamtquerschnitt zeigten, dass die rechnerische Tragfähigkeit unter Ansatz der außergewöhnlichen Bemessungskombination nachgewiesen werden kann. Von einem unmittelbaren Einsturz war nicht auszugehen.

Berechnungsmodell (ZM-I)
Überbaulagerung auf neuem Widerlager (Foto: Becker Ingenieure GmbH)
Fußgängerquerung (Foto: Becker Ingenieure GmbH)

Die Wiederherstellung des Tragwerks

Die Wiederherstellung erfolgte in zwei Schritten. Im ersten Schritt ging es darum, das Randfeld wieder in seine ursprüngliche Lage anzuheben, um anschließend ein neues Widerlager zur Auflagerung zu schaffen.

Für das Anheben des Überbaus, wurden 4 Stahlstützen mit Stellringpressen auf Hilfsfundamente aufgestellt. Der Überbau wurde auf die vorher berechneten Auflagerkräfte kraftgesteuert angehoben und die Höhenlage messtechnisch überwacht.

Das provisorische Widerlager wurden als Stahlbetonbalken in Fertigteilbauweise hergestellt und auf Ortbetonfundamenten gegründet. Das Lagerungskonzept des Überbaus mit den Verformungslagern in der südlichen Widerlagerachse entsprach dem Bestandszustand.

Innerhalb von nur zwei Monaten konnte das schwer beschädigte Brückenbauwerk über die L83 als erste Brücke in der Region für seine ursprüngliche Brückenklasse wieder für den Verkehr freigegeben werden.

Dank der Erfahrungen bei der Bewertung beschädigter Brückenbauwerke, der Anwendung moderner Berechnungsmethoden und vor allem dem unermüdlichen Einsatz aller Projektbeteiligten konnte das Bauwerk für die provisorische Nutzung wiederhergestellt werden.

Havarierter Zustand des Überbaus (Foto: Becker Ingenieure GmbH)
Havarierter Zustand des Überbaus (Foto: Becker Ingenieure GmbH)
Überbaulagerung auf neuem Widerlager (Foto: Becker Ingenieure GmbH)
Überbaulagerung auf neuem Widerlager (Foto: Becker Ingenieure GmbH)

Gemeinschaftlich, pragmatisch, effizient

Das Hochwasser an der Ahr hat neben dem menschlichen Leid auch gezeigt, mit welcher Wucht und Zerstörungskraft die Infrastruktur einer ganzen Region innerhalb kürzester Zeit zerstört werden kann.

Der schnelle und unbürokratische Einsatz aller Beteiligten und Entscheidungsträger beim provisorischen Wiederaufbau der Brücke Ko 360 war auf seine Art einzigartig.

Er zeigt, dass zu unserem Berufsstand mehr gehört als nur die Anwendung von Normen und Richtlinien. Vielmehr ist intuitives Wissen über Technik und Strukturen gefragt, um reaktionsschnell pragmatische Lösungen für außergewöhnliche Situationen zu finden. Durch die überregionale Vernetzung und das vertrauensvolle Miteinander wurden gemeinschaftliche Interessen in den Vordergrund gerückt und die Prozesse des Wiederaufbaus beschleunigt.

Intuitives Wissen über Technik und Strukturen ist gefragt, um schnelle Lösungen für außergewöhnliche Situationen zu finden – zusammen!

Artikel im Magazin Brückenbau, Heft 4/2023 „Schneller Wiederaufbau durch gemeinsames Handeln
Brücke über die Ahr im Zuge der L 83“

von Markus Hennecke, Marco Heinze, Thomas Becker

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